Beatrice Sherlock-Stähli, unterrichten Sie das Fach «Berufliche Orientierung» gerne?
Ja, es ist ein sehr spannendes Fach. Die Jugendlichen nehmen ihr Leben zum ersten Mal so richtig in die Hand und können wichtige Fragen bearbeiten und Entscheide fällen. Wie bin ich? Was macht mich aus? Was genau will ich eigentlich? Wofür brenne ich? Was kann ich richtig gut? Wohin zieht es mich?

«Berufliche Orientierung» ist Bestandteil im Lehrplan. Wie erleben Sie den Unterricht in der Praxis? Hat sich diese Anpassung mit dem Lehrplan 21 bewährt?
Man hat die Berufswahl schon immer gemacht, man hat dafür einfach von Deutsch und anderen Fächern regelmässig  Zeit weggenommen. Jetzt gibt es das Zeitgefäss und kann besser, konstanter und fokussierter am Thema arbeiten.

Als Lehrerin müssen Sie alle Schülerinnen und Schüler bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit irgendwo unterbringen. Dies dürfte eine nicht immer einfache Aufgabe sein?
Es ist im Moment eindeutig einfacher als auch schon. Jugendliche finden , wenn sie etwas flexibel sind, auch eine spannende Lehrstelle. Schwierig wird es, wenn die oder der Jugendliche sich nur einen Beruf vorstellen kann und es dafür im Kanton Graubünden nur wenige Ausbildungsplätze gibt.

Was steht für Sie bei der Berufswahl im Vordergrund?
Ich finde es wichtig, dass die Jugendlichen frei von den Wertvorstellungen der Lehrpersonen oder Eltern ihren eigenen Weg finden. Es ist eine riesige Chance, dass die jungen Menschen zum ersten Mal entscheiden können, wohin sie ihr Weg führt und das lernen können, wofür sie brennen.

Welche Rolle spielt die Schule aus Ihrer Sicht heute bei der Berufswahl der Jugendlichen?
Die Hauptverantwortung für die Berufswahl liegt weiterhin bei den Eltern. Die Schule kann aber tatkräftig unterstützen, Ängste nehmen, beraten, Gespräche unter Jugendlichen ermöglichen und auch Bildungswege aufzeigen, die vielleicht nicht allen Eltern bekannt sind. Manchmal ist es auch einfacher für eine Lehrperson als für die Eltern, den Jugendlichen ein bisschen auf die Füsse zu stehen und sie dazu zu bringen, in der Berufswahl vorwärtszumachen.

Was ist für Sie als Lehrperson zentral, damit die Berufswahl von Erfolg gekrönt ist?
Ich finde es wichtig, dass sich die Jugendlichen wirklich ein Bild machen vom Beruf, den sie interessiert. Oft haben sie ganz falsche Vorstellungen vom Berufsalltag. Am besten gewinnt man diese Erkenntnisse mit Schnupperlehren. Diese Erfahrungen sind praktisch und echt und somit am aussagekräftigsten. Wichtig ist es auch, dass die Jugendlichen alle Unterstützungsangebote kennen, seien das die Angebote des Berufsinformationszentrums BIZ oder die gängigen Homepages, die von Videos über die einzelnen Berufe bis zu den konkreten Lehrstellenangeboten eine riesige Palette an Informationen zur Verfügung stellen.

Wie gestalten Sie die Zusammenarbeit mit Eltern, Berufsberatung und Lehrbetrieben in diesem Prozess?
Mit den Eltern gibt es anfangs der 2. Oberstufe einen Elternabend zum Thema Berufswahl, bei dem auch die regionale Berufsberaterin dabei ist. Auch bei den einzelnen Elterngesprächen liegt der Fokus auf der Berufswahl. Die Jugendlichen haben ein Zeitfenster von einer Schulwoche zur Verfügung, um erste Schnuppererfahrungen zu machen. Natürlich dürfen sie zusätzlich immer wieder schnuppern gehen. Mit den Lehrbetrieben habe ich vor allem dann Kontakt, wenn ich die Schülerinnen und Schüler in der Schnupperlehre besuche. Da suche ich immer auch das Gespräch mit den Ausbildungsverantwortlichen. Ich empfinde das als sehr bereichernd, auch für die Schule.

Was konkret raten Sie den Eltern bei der Berufswahl?
Ich rate den Eltern, ihre Kinder zu begleiten und zu stärken und mit ihnen zusammen herauszufinden, was sie wirklich wollen und was zu ihnen passt. Es ist auch wichtig, dass sie die Jugendlichen immer wieder motivieren, sich mit der Materie auseinanderzusetzen. Der Prozess der Berufswahl beginnt immer früher und ist für gewisse Jugendliche auch eine Überforderung. Somit braucht es für Eltern manchmal auch etwas Geduld, wenn es nicht so schnell läuft, wie man das als Mutter oder Vater gerne hätte. Die Eltern sollen zuversichtlich bleiben und ihren Kindern zeigen, dass sie an sie glauben.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule am besten?
Die Zusammenarbeit gelingt am besten, wenn beide Seiten Verantwortung übernehmen, sich immer wieder austauschen und die Bedürfnisse und Wünsche des Jugendlichen ins Zentrum stellen.

Schnupperlehren gelten als entscheidend für die Berufswahl. Welche Erfahrungen machen Ihre Schüler/innen damit? Was ist beim Schnuppern in den Lehrbetrieben wichtig?
Die Jugendlichen machen sehr unterschiedliche Erfahrungen. Ich staune zum Teil immer wieder, was sie in dieser kurzen Zeit schon alles machen dürfen. Man muss sich bewusst sein, dass die Aufnahme eines Schnupperlehrlings für einen Betrieb oft ein erheblicher Mehraufwand bedeutet; somit ist es nicht immer ganz einfach, passende Schnupperlehren zu finden. Es ist deshalb umso wichtiger, dass sich die Jugendlichen gut vorbereiten, sich vorgängig schon intensiv mit dem Beruf auseinandergesetzt und ein echtes Interesse daran haben. Ich finde es wichtig, dass die Jugendlichen nicht zu schüchtern sind und auch ganz viele Fragen stellen. Am besten funktioniert es, wenn sie im Lehrbetrieb auch mit anderen Lernenden austauschen können.

Auf was schauen die Lehrbetriebe ihrer Erfahrung nach heute, Zeugnisse, Schnupperlehren, Bewerbungsgespräche?
Da müssten Sie die Lehrbetriebe selbst fragen. Ich denke es ist eine Mischung von allen drei. Der persönliche Kontakt und wie sich Jugendliche präsentiert, sei das während der Schnupperlehre oder des Vorstellungsgespräches, spielt sicher eine grosse Rolle.

Spielt das Erstellen von Bewerbungen und Lebensläufen heute noch eine grosse Rolle?
Interessanterweise wird heute auch für Schnupperlehren häufig schon eine Bewerbung verlangt, auch wenn es sich nur um eine Orientierungsschnupperlehre handelt. Somit beginne ich immer sehr schnell mit dem Erstellen von Bewerbungsunterlagen. Im Gegensatz zu früher werden aber die meisten Bewerbungen heute digital eingereicht.

Was steht bei der Berufswahl für Jugendliche im Vordergrund, der Lohn, ein gutes Team, grosses Ansehen in der Klasse?
Das kann nicht allgemeingültig beantwortet werden. Ich habe den Eindruck, dass es für viele Jugendliche sehr wichtig ist, wie wohl sie sich im Team fühlen. So kommt es nicht selten vor, dass Jugendliche den gleichen Beruf in zwei Betrieben schnuppern und beim einen finden, das sei wohl kein Beruf für sie, und beim anderen sprühen sie vor Begeisterung.

Welche typischen Stolpersteine beobachten Sie bei Jugendlichen im Berufswahlprozess?
Oft beobachte ich, dass Jugendliche Mühe haben, einfach mal ins kalte Wasser zu springen und sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Wenn die Hemmschwelle aber mal durchbrochen ist, kommt der Prozess meist gut in Gang. Oft hilft es, dass man in der Klasse sieht, wie es andere angehen und zum Teil auch einfach mal etwas ausprobieren, um sich dann auch zu getrauen. Manchmal haben Jugendliche auch nicht so einen langen Atem und sind dann enttäuscht, wenn es nicht gerade bei ersten Mal mit der Berufsfindung klappt. Natürlich ist es auch immer wieder schwierig, mit Frust und später auch mit Absagen umzugehen- aber das gehört eben auch zum Berufswahlprozess. Andere haben eine völlig falsche Vorstellung eines Berufes und sind dann sehr enttäuscht nach einer Schnupperlehre. Aber auch das ist eine wichtige Erfahrung. Es ist sehr wichtig, herauszufinden, dass ein gewisser Beruf gar nicht passt. Auch so kommt man auf dem Weg weiter.

Was passiert, wenn ein Jugendlicher trotz aller Bemühungen keine Lehrstelle findet? Ist Frustration in der Berufswahl häufig anzutreffen?
Zum Glück kommt das im Moment eher selten vor. Meine Schülerinnen und Schüler müssen immer einen Plan A und einen Plan B erarbeiten. Wenn es relativ lange nicht klappt, im Traumberuf eine Lehrstelle zu finden, wird der Horizont geöffnet und die Bewerbung beim Beruf vom Plan B beginnt. Es kommt auch vor, dass Jugendliche wirklich gar nicht herausfinden, was zu ihnen passt, was sie lernen möchten und einfach noch etwas mehr Zeit brauchen. Dazu haben wir in unserem Kanton aber eine ganze Palette guter Brückenangebote.

Welche Tipps geben Sie Jugendlichen, die zwischen mehreren Berufsfeldern schwanken und sich schwer entscheiden können?
Sie sollen in beiden Berufsfeldern mehrmals in unterschiedlichen Betrieben schnuppern und dann auf ihr Bauchgefühl hören.

Wann merken Sie bei Ihren Schülerinnen und Schülern erste Hinweise darauf, welche Stärken oder Interessen sie haben könnten?
Das merkt man oft sehr schnell, schon in der 1. Oberstufe. Ich halte mich aber relativ lange zurück mit Hinweisen darauf, weil ich es wichtig finde, dass die Jugendlichen selbst versuchen herauszufinden, was ihnen liegt.

Wie gehen Sie mit Jugendlichen um, die überhaupt noch keine Idee für ihre berufliche Zukunft haben?
Zuerst empfehle ich ihnen sicher ein persönliches Beratungsgespräch im BIZ. Spannend ist es auch immer wieder, wenn ehemalige Schülerinnen und Schüler zu Besuch kommen. Die lass ich dann ausführlich über ihre Erfahrungen in der Lehre berichten und gebe Raum für Fragen. Das wird sehr geschätzt und rege genutzt. Zusätzlich versuche ich sie immer wieder zu motivieren, weiterhin Schnupperlehren zu machen, sich mit Mitschülerinnen und Mitschülern auszutauschen und sich auch online mit ganz verschiedenen Berufsfeldern auseinanderzusetzen. Manchmal liegt der Traumberuf auch in einem unerwarteten Berufsfeld, das vielleicht auch nicht dem eigenen Rollenbild entspricht. Ich ermutige die Jugendlichen, auch mal über diesen Zaun zu gucken. Vielleicht hilft es gerade den weiblichen Jugendlichen auch, dass ich als Frau ihre Mathematiklehrerin bin und es somit klar ist, dass technische, mathematiklastige Berufe nicht nur Männersache sind. Ich habe zum Beispiel eine ehemalige Schülerin, die einen technischen Beruf gewählt hat und jetzt auf dem internationalen Pflaster als Gameentwicklerin arbeitet. Solche Geschichten freuen mich natürlich sehr.

Wie helfen Sie Ihren Schüler/innen dabei, die Balance zwischen Wunschberuf und realistischer Einschätzung der eigenen Fähigkeiten zu finden?
Ich sage einem Schüler oder einer Schülerin prinzipiell nie, dass ein Beruf nicht passt oder zu schwierig ist. Ich fordere sie eher dazu auf, ihren Wunschberuf schnuppern zu gehen. Meistens merken sie selbst, dass der Beruf nicht so zu ihren Fähigkeiten passt. Manchmal hilft auch im Coachinggespräch ein gemeinsamer Vergleich des Anforderungsprofils eines Lehrberufes mit den eigenen schulischen Stärken. Da merken dann die meisten Jugendlichen selbst, dass man mit einer Note 3 in Mathe vielleicht besser nicht Informatiker lernt.

Was sagen Sie zu den Eltern, welche ihre Kinder nur ins Gymnasium schicken möchten, obwohl dies vielleicht der falsche Weg ist?
Wenn ich spüre, dass der Wunsch wirklich nur von den Eltern aus kommt, stelle ich der oder dem Jugendlichen oft die direkte Frage: «Was wäre für dich der perfekte Weg zu deinem Traumberuf?» Da kommt dann oft ziemlich klar zum Ausdruck, dass sie alles andere als nochmals 8-9 Jahre zur Schule bzw. an eine Universität gehen möchten. Da kann man dann sehr gut anknüpfen und den Eltern auch aufzeigen, dass in unserem Bildungssystem sehr viele Wege nach Rom führen und auch mit einer Lehre alle Wege offenstehen. Zudem haben wir im Kanton Graubünden auch noch eine Aufnahmeprüfung ans Gymnasium, bzw. an die FMS, HMS und IMS, die zuerst noch bestanden werden muss. Dazu braucht es in den meisten Fällen viel Motivation und einiges an Fleiss seitens der Jugendlichen.

Wie gestalten Sie die Zusammenarbeit mit Eltern, die vielleicht klare Vorstellungen vom Beruf ihrer Kinder haben?
Ich betone in Gesprächen immer wieder, wie wichtig für eine erfolgreiche Ausbildung es ist, dass die Jugendlichen ihre eigenen Entscheidungen treffen. Die Wünsche und Träume der Jugendlichen müssen im Zentrum stehen und nicht die Vorstellungen der Eltern. Ich erlebe es aber höchst selten, dass die Eltern Jugendliche in ihrer Berufswahl eine Richtung drücken wollen, die ihren eigenen Vorstellung entspricht. Meistens sind die Eltern froh, wenn ihre Kinder ihre Interessen kennenlernen und sich entscheiden können.

Auch Berufe unterstehen Trends, haben diese tatsächlich einen grossen Einfluss auf die Berufswahl? Wie gehen sie damit um?
Interessanterweise ist die beliebteste Ausbildung bei den Abgängern meiner Sekundarklassen in all den 24 Jahren meines Unterrichtes die zur Kauffrau und zum Kaufmann geblieben. Im Schnitt sind es immer so ca. ein Drittel aller Lehren. Auch die Gesundheitsberufe sind nach wie vor sehr beliebt. Es gibt aber schon Trends, die klar spürbar sind. So sind Informatik oder Mediamatik sehr gefragt. Ich steure aber in keine Richtung, sondern biete Informationen und versuche, bei den Jugendlichen Interesse an ganz verschiedenen Berufsfeldern zu wecken.

Welchen Einfluss haben heute soziale Medien auf die Berufswünsche der Jugendlichen?
Ich glaube, die spielen eine eher kleine Rolle. Jedenfalls habe ich keine einzige ehemalige Schülerin oder ehemaligen Schüler, der Influencer geworden ist.

Welchen Tipp geben Sie den Eltern für die Berufswahl mit?
Sind Sie zuversichtlich, hören Sie Ihrem Kind zu, zeigen Sie sich begeistert darüber, Ihr Kind auf diesem abenteuerlichen Weg begleiten zu dürfen, und vor allem: Glauben Sie an Ihr Kind!